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Sylvia Taraba
Scharfes Eck

Zuhauf finden sich Hatler im Scharfen Eck. Auch benachbarte und hauseigene Katzen zeigen sich hier! Das Scharfe Eck ist ein Hit. Der Komet vom August 2014. Ein Phänomen aus dem Nichts.
Es wird dort philosophiert und agitiert, getrunken und geraucht, geraten und gebraten. Bechtold raucht, trinkt fraglos mit, zeichnet aus der Erinnerung und schöpft aus dem Vollen.
Überschüssige Empathie euphorisierender, sentimentalisierender Abende!
Großes Gefühlsspektrum. Alkohol schiebt Vorhänge beiseite. Die Begeisterung des Kennenlernens und Austauschens. Beiträge unterschiedlichster Länge und Vortragsweise, auch depressive Geschichten werden erzählt. Freud und Leid, Himmel und Hölle des Daseins tun sich auf. Traumwandelnde, Frohsinnige und Beladene treten ein. Früh Alleinstehende, späte Pärchen, Schnapsbrenner- und Schnapskenner, kreative Marmeladen-Einkocher, Liebhaberinnen des Kärntner Schinkens, Liebhaber des Obst- und Gemüseanbaus aus allen Berufszweigen, Stadtplanungsbeamte, Blumenfreunde, malende, bildende, singende und darstellende KünstlerInnen, Intellektuelle, Buch-, Schreib- und Druckereifachfrauen, Kräuterfrauen und EinzelgängerInnen treffen einander hier zu Andeutung oder Austausch tiefer Überzeugungen. Nicht alle sind sich ganz grün; aber auch nicht unbedingt rot; noch sehen alle schwarz; aber blau gehen dann doch einige nach Hause. Was ist so besonders? Es ist die Art des Hauses. Es ist die Art des Stubat mässigen Hereinströmens um die Nachrichtenzeit. Die Art des Verweilens und des wieder Abziehens, wenn das persönliche Ansinnen oder Anliegen erledigt ist. Man kommt im Vorraum an, erscheint im Türrahmen, macht sich ein Bild, betritt über eine Treppe die Weinstube und entschwindet über diese Treppe auch wieder, spätestens bei Sperrstunde - jeder nach seiner Art.
Man ist einem allmählich ansteigenden Alkohol- und Geräuschepegel ausgeliefert. Schwerhörige üben sich im Lippenlesen, einige werden lauter, andere ziehen das Schweigen vor. Man kennt einander und auch wieder nicht. Jedenfalls vom Sehen. Was gibt’s denn da zu erzählen? Es ist gerade die Verbindlichkeit des Unverbindlichen, die Menschen dazu bringt einander was zu erzählen. Oder einander die Meinung zu sagen,  testweise,  um sich eventuell eine andere Meinung zu bilden. Oder lieber gar keine zu haben. Sicher ist sicher. Oder doch die Herausforderung wagen? Das Zusammenkommen ist uns Menschen - jedenfalls hin und wieder - wichtig. Wärmendes Stallgefühl, ohne sich allzu nahe zu sein. Eindrücke sammeln, die eigene Seite ausloten, ob sie hält; oder einfach, nur um sich auszukotzen. Wollen sie sich alle der Information durch den ORF entziehen? Information und Nachrichten vermeiden? Nicht in Form gebracht, nicht nach gerichtet werden durch ein Medium? Lieber den Humor des Nachbarn ins Schleudern bringen!

Wir Menschen lieben Orte, wo wir zusammenkommen können. Wir wollen einander kennen um einander auf der Straße zu erkennen. Wollen wissen wo der andere wohnt, mal vorbeischauen, was er dort macht oder ob man oder frau ihm irgendwie mit irgendetwas weiter helfen kann und ob dafür auch die Chemie stimmt. Andernfalls ein wenig über ihn schwätzen. Nähe erfahren bedeutet: Man hört und sieht was einer denkt. Man erlebt einander intensiver beim Trinken. Bekommt mehr Einblick. Man spürt wo die eigenen Grenzen und wo die Grenzen des anderen sind. Was nicht bedeuten muss, dass sie eingehalten werden. Von solch eigenmächtigen GrenzüberschreiterInnen
hält man sich eine Zeit lang fern. Von anderen wieder kann man nicht genug bekommen. Sie sind selbstbestimmt freundlich, offen wie ein Buch, in dem man Überraschendes lesen kann. G. B. ist so einer. (Er hat heute Geburtstag!) Man lässt einander sein und gewähren.
Vor allem der Pfeife rauchende Wirt (ein Künstler der Keramik und des Ofenbaues), - er muss schließlich den ganzen Abend dableiben - und seine Frau (eine Künstlerin der Blumenwahl und des subtilen Farb-Arrangements). Sie beide und ihr kellnernder, derzeit posthumer Kater Max haben sich einen Traum erfüllt. Sie haben miteinander vereinbart, andere zu bewirten, sie aufmerksam zu beobachten, still zuzuhören, im richtigen Augenblick nachzuschenken, Soletti auf Vorrat hin zu stellen, und bei großem Hunger ein zünftiges Brot mit Speck und Serviette aufzutischen. Aus heiterem Himmel kann es eine spontane Verkostung edler Brände geben, - als Argument oder liebenswürdigen Gesprächsbeitrag des Wirten. Der Dativ betont hier die Übereinkunft, dass Wirte für das Leben ihrer Gäste Bedeutung haben. Bei Sperrstunde sitzt der Kater am Tisch. Manchmal ein weiblicher Schwur. Nie mehr hin gehen ins Schwarze Eck. Keinen Absturz mehr erleben und keinen Kater. Frauen stürzen aus vielerlei Gründen nicht gerne ab. Diese Gründe treffen auf die meisten Männer nicht zu.

Wer kommt denn aller hin oder her ins Scharfe Eck?
Ur-Hatler aus der Nähe und der Ferne. Obergescheite und Verständige. Gespreizte und Gesprächige. Einzelne auch mit Selbstüberschätzung; viel zu viele eigentlich mit Selbstunterschätzung. Es gibt hier Freud-Hatler und, wie man hört, auch sogenannte Hass-Hatler. Auch spät Eingebürgerte, die gar nicht Bescheid wissen über den ehemaligen, historisch dokumentierten Unruheherd Hatlerdorf. Aber nicht alle 109 Nationen, die in Dornbirn sesshaft sind, kommen. Auch Türken nicht, die 5,5 Prozent des Bevölkerungsanteils in Dornbirn ausmachen. Manchmal trifft man einen Oberdorfer, Haselstauder oder eine Rohrbacherin. Manchmal einen gebürtigen Bosniaken, seltener eine Slowakin. Man spricht gutes Hatlerdeutsch, mit Tiroler, Kärtner, Steirer oder Wiener Zungenschlag. G.B. geht hin, weil er als Bregenzer hier endlich die Hatler erleben kann und so mein Hatlerdorf (seine zweite Heimat) seit einem Jahr noch besser kennenlernt. Eine gemütliche, saubere Stube ist das Scharfe Eck; enorm praktisch gelegen dazu, weil in unmittelbarer Nähe der „Privatwirtschaft“ Hatlerstraße Nr 53, - wenn man abends mal außer Haus gehen will. G.B. hat hier schon einige Freunde und Freundinnen gewonnen.

Was findet und redet G.B. dort?
Es besteht für ihn die Möglichkeit, bestimmte Menschen vor zu finden und seine angeborene Empathie zu leben. Diese wird in den unterschiedlichsten Bereichen angesprochen. G.B. ist offen für Genies, ebenso wie für Bescheidene; für Angeber ebenso wie für Demütige, und offen vor allem für den sogenannten Kleinen Mann. Er erfreut sich am Gespräch mit unterschiedlichsten Menschen. Künstler, Wissenschaftler, Unternehmer sind ihm gleich wertvoll, wie seine zahlreichen Gesprächspartner aus dem einfachen Volk. Er mag Menschen, die Authentisches vollbringen, ohne großen Wind zu machen. Vom Leben Geschlagene, Beglückte oder in Ruhe gelassene. Er wertschätzt Menschen mit Lebensmut, die sich, - besondere Lebensleistung -, durch nichts und niemanden einvernehmen lassen, besonders nicht vom mainstream.
G.B. ein „Menschenfreund“? Nein. Er liebt einfach Menschen. Er liebt sie, auch wenn sie ihm auf die Nerven gehen, auch die, die ihn beneiden und ihn deshalb verachten oder aus unerfindlichen Gründen sogar hassen. Die grüßt er gern froh und strahlend: Was schert’s die Sonne, wenn der Hund bellt, beziehungsweise, was kümmert’s den Mond, wenn die Maus kreißt?

G.B. schätzt das Männergespräch, da wo man quasi unter sich ist und die soeben mit der Hand ausgeführten Arbeiten und getanen Werke bespricht. Da ist er ein guter Zuhörer. Halbbildung und nicht bis zum Ende Durchdachtes, mag er nicht. G.B. schätzt Männer und Frauen, die in ihrem Beruf, - egal in welchem -, etwas zu Wege bringen. Er ist kein Frauen-Held. Gern jedoch ein Held der Frauen. Er schenkt ihnen Aufmerksamkeit und Wärmestrahlung – Frauen schätzen das.
Er ist ein begnadeter Spontan-Erzähler. Aber oft ein saumäßig schlechter Zuhörer im Alltäglichen. Er unterbricht gewohnheitsmäßig und schweift gern aus. Gelangt dabei vom Hundertsten ins Tausendste. In den allermeisten Fällen gelingt es ihm jedoch den weiten Bogen - den zu ziehen er vorhatte - auch wieder zu schließen. Ganz besonders - im Besonderen. Für sein beträchtliches, in einigen Bereichen tiefes Wissen, sowie seine überraschende Kombinationsgabe wird er mit offen stehendem Mund bewundert. Seine Begabung zur paradoxen Intervention ist umwerfend lustig. Menschen, und gerade die wirklich Selbstbewussten, hören ihm gerne zu. Sie hören ihn gerne reden, denn er hat ziemlich Gescheites, meist Unerwartetes, und oft ziemlich Verblüffendes zu sagen. Er ist ein gefragter Referent. Wenn er allein und ungebremst reden und schweigen darf, wie er gerade will, ist er unüberbietbar. Er wird hoch geschätzt als profunder Erzähler in Sachen der Kunst und seiner eigenen Arbeit. Besonders geliebt wird er für sein selbsttätiges Unterlaufen politisch korrekten Unsinns.

Was hat G.B. im Scharfen Eck zu zeichnen?
Die Trinker- und Wirtshausidylle ist ein Künstler-Sujet des 19. Jahrhunderts in der Genre-Malerei. Es handelt sich dort um die einschlägige Darstellung der Süffigkeit des Weines und der Weinseligkeit des trinkenden Großbauern und seiner Kumpane, vorzüglich mit rotgeäderter Nase und Zipfelmütze vor alten Butzenscheiben. Sie verhalf dem Besitzer eines solchen Bildes zur ironischen Verklärung seiner kleinen Süchte. Anders die Naturalisten und Impressionisten. Sie gaben ausgiebig Bescheid über verschiedene Grade der alkoholischen Ausschweifung und des Deliriums bei den  Künstlern, Bohemiens und Absinth-Trinkern ihrer Zeit. Das 20. Jahrhundert, von Dix bis Hrdlicka, liebte die exzentrische Darstellung des ganz allgemeinen Sozialen Elends.

Welche Sorte von Trinkern hat G.B. im Auge?
Damit kein Missverständnis aufkommt: er zeichnet keine Karikaturen von Trinkern, auch wenn jemand, - oberflächlich betrachtend -, vielleicht diesen Eindruck gewinnt. Eher ist es ein Eintauchen in atmosphärische Reminiszenzen des gemeinsamen Trinkens, mit Selbst-Ironie, sachlicher Liebe zum angedeuteten Detail und der Wahrung der Würde des sozialen Lebens.
G.B. pflegt auch hier den lapidaren Zugang, wie zu allen seinen zeichnerischen Sujets. Zum Beispiel das Herkules-Projekt und das Uno-City-Projekt der Internationalen Skulptur und deren Sach-Skizzen auf US-Military-Department-Kuverts (1985 -1992) in Official Bussiness und Sex-Appeal (1992), veröffentlich als Booklet mit 56 Zeichnungen auf Kuverts (1993); Charakter-Köpfe (2011) Kohle - und Grafitstift-Zeichnungen in grobschlächtiger Block-Technik, breitflächigem Strich und ironischer Feinjustierung im Ausdruck, veröffentlicht in der Literatur-Zeitschrift Miromente; Mayday – 300 Flugzeugabstürze (2013) – die Zeichen-Technik dient ihm hier als ein Mittel, anhand des Themas Fliegen Stilfragen zu erkunden, aber zugleich das individuell und geopolitisch heruntergespielte Thema des zeitgenössischen Umher-Fliegens um jeden Preis ziemlich ungerührt zu hinterfragen; Akte (2014) – Nackte Frauen - ein vordergründig kreatürlicher Zugang betreff der hintergründigen Frage ‚was will das Weib? – dargebracht als „Akt“ über das Medium der unschuldigen Linie. G.B. findet Gewissheit und Sicherheit für den entsprechenden Ausdruck des entsprechenden Themas. Es zeigt seinen trockenen Humor für das Ganze, und seinen subtilen Witz in der Sache.

Hier im Scharfen Eck geht’s um das gezügelte, zügige oder aber ums schnelle „Löten“ im angeregten Gespräch, aus dem noch mehr werden kann, bis man gar nicht mehr weiß, wo man angefangen hat. Es gibt heutzutage unglaublich viel zu besprechen; und die Notwendigkeit etwas los zu werden solange bis es fertig ist. Da so viel los ist in der Welt, benötigt es das schnelle Trinken, damit es überhaupt so weit kommt und für dieses Mal zu Ende gebracht werden kann.
Empathie, Schnelligkeit und Fraglosigkeit, dazu braucht man einen sicheren Strich auch beim Zeichnen des Trinkens. Erst recht beim aus dem Kopf Zeichnen. G.B. hat Licht im Kopf und Sonne im Herzen. (Also Durchblick mit Herz.) Sachlichkeit gepaart mit angeborener Witzigkeit.
Zielstrebige Linienführung gepaart mit Gefühl. Er kennt seine PappenheimerInnen und das sieht man, obwohl man keine persönlich erkennen kann. Sie ihrerseits freuen sich, ihn zu kennen. Sein Zeichnen ist frei von Häme und Sarkasmus, aber voll der Zuwendung: das drückt sich in der Zeichnung selbst aus.
Gut 30 Jahre beobachte, begleite und beschreibe ich sein Zeichnen als Bildhauer, und sein zeichnerisches Werk, da es meist unter einem gemeinsamen Dach stattfindet. Wenn er ausgerechnet jetzt aus dem Wirtshaus zeichnet, dann ist das schon beruflich angewandte Lebenserfahrung, gepaart mit dem schnellsten Strich und der krudesten Linie ever: (Ich hab eben per SMS gefragt, wo die im Scharfen Eck zu sehen sind, die gerade pinkeln. Nach einigen Minuten schon, sah ich sie in meinem i-phone-Display im gekachelten Pissoir stehen. Ich erinnerte dran, dass es im Scharfen Eck kein Pissoir gibt, nur ein einzelnes Klo, wo man in die WC-Muschel pinkelt. (Männer im Stehen versteht sich!) 2 schnelle Minuten später zeigte mein i-phone bereits das hauseigene Klo, bespielt von einem Gast.) Hinzuzufügen ist, dass die Weinstube Scharfes Eck, das appetitlichste und sauberste WC besitzt, dass man sich vorstellen kann. Nie geht dort etwas daneben, den ganzen Abend bleibt es sauber. Gerade der geborene „Seebrünzler“ (Dornbirner Kosename für die Bregenzer) weiß es zu würdigen, wenn heute noch wo im Stehen gepinkelt werden darf.
© Sylvia Taraba, 2015

 

 
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